Nachtgeschichten
freie Arbeit
2002

Menschen brauchen Geschichten. Am besten vor dem Einschlafen. Sie sollen ablenken, beruhigen, den Schlaf bringen. Manche Geschichten finden sich in Büchern, andere im erlebten Tage. Sie erzählen sich im Lesen, im Nachdenken, sie wiegen uns in die Träume. Manchmal gelingt es ihnen jedoch nicht. Wir wenden uns hin und her, suchen Trost im Licht der Nachttischlampe, versuchen zu lesen, aber keine Geschichte beruhigt den Kopf, den Körper, der sich ganz gegen unseren Willen zum Wachen entschieden hat. Schließlich seufzen wir, fühlen uns allein, betrachten das dunkle Zimmer und seine erstarrten Gegenstände, die sich im farblosen Dunkel der Nacht nur erahnen lassen. Still bestaunen wir die Vielzahl ihrer Grautöne und lauschen den tonlosen Geschichten der Schatten: mit löchrigen Netzen bedecken sie die Bilder an der Wand, als gezackte Striche malen sie ein mächtiges Tapetenmuster, wie verspielte Tiere liefern sie sich einen Zweikampf auf dem Lampenschirm. Plötzlich fällt Licht an die Decke, formt breite Straßen, die erst zögernd, dann forsch die Wand hinunterlaufen, sich gassenartig einen Weg über Gesicht, Bettdecke und Boden suchen, ehe sie rasch als schmale Pfade durchs Fensterglas verschwinden.
Wir wissen, dass nachts Autos den Berg hinunter fahren, die Allee entlang, auf dem brüchigen Asphalt in die nächste Stadt hinein, wir spüren das grelle Fernlicht schon von weitem, wissen von der Laterne um die Ecke, und welche Schatten sie erweckt, welche Dinge sie belebt: das doppelte Fensterkreuz, die Geländerstäbe des Balkons, die halbkahlen Äste im Hof. Wir wissen um der Effekte Herkunft, kennen die Reflektionen und all das Spiegelspiel, wir hatten Physik in der Schule, doch es beruhigt uns nicht. Denn diese Schatten erzählen Geschichten ohne Anfang und Ende, ohne Helden und Moral. Sie erinnern, stören, ängstigen uns. Wir ziehen die Bettdecke ein Stückchen höher und fühlen uns wie ein Kind.

Text: Judith Schalansky